Die Rolle der Audiotherapie

Die Rolle der Audiotherapie
Der Hörsinn ist nicht nur einer von mehreren Sinnesmodalitäten, sondern die Grundlage für menschlich Kommunikation schlechthin. Hördefizite haben deutliche psychosoziale Auswirkungen und verändern die Kommunikationsgewohnheiten. Die Versorgung von erwachsenen Hörgeschädigten ist trotz Spitzenprodukten der Hörgeräteindustrie und guter handwerklicher Leistungen der Hörgeräteakustiker nicht befriedigend. Noch immer ist die Akzepanz von Hörgeräten unzureichend und das Image der Hörschädigung schlecht. Viele nehmen lieber eine zunehmende Einschränkung der Lebensqualität auf sich, als sich zu einer frühzeitigen Hörgeräteversorgung zu entschließen. Möglicherweise ist der bisherige Ansatz, die Hörschädigung als ein rein technisch zu lösendes Problem anzugeben, zu überprüfen. Nicht die nächste Generation der Hörgeräte wird die Probleme der Schwerhörigkeit lösen, sondern der ganzheitliche Ansatz bei der Rehabilitation von Hörgeschädigten. Das Ziel ist nicht das Wiedererlangen des Normalgehörs, sondern die individuelle Optimierung der Kommunikationskompetenz. Dieser Ansatz wurde im Tinnitus-Therapiezentrum (TTHZ) Neunkirchen/Saar umgesetzt. Die hier in Auszügen abgedruckte Studie soll erste Ergebenisse zeigen.

DEFIZITE IN DER HÖRGERATEVERSORGUNG

Obwohl die Hörgerätetechnologie auf einem hohen Stand ist, ist die Versorgung der Schwerhörigen nicht optimal. Einerseits liegt eine deutliche Unterversorgung der 14 Millionen Hörgeschädigten mit 2,9 Millionen Hörgeräten vor. Zum anderen mehren sich die Hinweise, dass ein Teil der Versorgten nicht zufrieden ist. Als Konsequenz sinkt die Tragedauer der Hörgeräte und nimmt die Zahl der Schubladengeräte zu.
Als Schubladengeräte werden Hörgeräte bezeichnet, die einige Wochen oder Monate nach der Verordnung nicht mehr oder nur sporadisch getragen werden. Sie sind der Ausdruck für eine nicht gelungene Rehabilitation. Wolfgang Sohn wies in einer Erhebung nach, dass nur 50 Prozent der Hörgeräteträger ihre Hörhilfen regelmäßig tragen. Weiterhin gaben 43 Prozent der Befragten Informationsmängel über die Hörschädigung an. Hier liegen die Hauptgründe, die zu einer nicht zufriedenstellenden Akzeptanz führen.
Zum wiedererlangten guten Hören gehört nicht nur eine Verstärkung und Aufbereitung des Eingangssignals, sodass das Hörfeld des Normalhörenden in das eingeschränkte Hörfeld des Hörgeschädigten eingepasst werden kann (unter Berücksichtigung der eingeschränkten Dynamik, erhöhte Hörschwellen, Recruitment, herabgesetzte Unbehaglichkeitsschwelle), sondern auch die zentrale und kognitive Verarbeitung der angebotenen akustischen Information. Hören und damit Verstehen bzw. Erkennen akustischer Muster muss vom Kleinkind erlernt werden und kann bei fehlender akustischer Reizung auch wieder verlernt werden.

ERFOLGREICH KOMMUNIZIEREN

Ziel ist zunächst nicht das Hören wie ein Guthörender, sondern der kommunizierende, selbstbewusste Hörgeschädigte, d.h. der Hörgeschädigte, der trotz akustischer Defizite fähig ist, erfolgreich zu kommunizieren.
Der Hörgeschädigte muss weiterhin lernen, dass seine Behinderung nicht als negatives Merkmal seiner Person zu sehen ist, sondern als Merkmal seiner Kommunikation. Er muss zur Entwicklung von Autonomie und selbstverantwortlicher Lebensführung befähigt werden und auch ertragen können, dass er in einer Situation eine Kommunikation durchführen kann und in einer anderen nicht (z.B. wenn es der Störgeräuschpegel nicht zulässt). Er muss in der Lage sein, Kommunikation auch dadurch zu sichern, dass er den Guthörenden dazu anhält, Verantwortung für das Gelingen der Kommunikation zu übernehmen, indem er langsamer und deutlich spricht, das Gesagte wiederholt, sein Mundbild nicht verdeckt usw. Dies steht auch im Einklang mit dem neuen sozialpolitischen Behindertenbegriff. Als Grundlage einer innovativen, zukunftsweisenden Behindertenpolitik definiert der Selbstbestimmt-Leben-Ansatz das Problem in der Abhängigkeit von Fachleuten, Angehörigen und Betreuern. Der Ort des Problems ist die Umwelt und ggf. der Rehabilitationsprozess. „Behinderung" ist also kein individuelles Defizit, sondern wird verursacht von der Gesellschaft. „Behindert ist man nicht, behindert wird man" (Motto Aktion Mensch). Effektivität entfalten personenbezogene Dienstleistungen dann, wenn sie von den Hilfeempfängern als sinnvoll für ihre Lebensbewältigung angesehen werden. Die Qualität der Hilfen entsteht im Zusammenwirken der individuellen Bedarfslage und individueller Sichtweisen mit der angebotenen Dienstleistung. Laut Otto Regenspurger, dem Vorgänger von Karl Hermann Haack im Amt des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, umfasst die Rehabilitation „eine Vielzahl aufeinander abgestimmter medizinischer, schulischer, beruflicher und sozialer Maßnahmen zur Eingliederung oder Wiedereingliederung Behinderter in Beruf und Gesellschaft". Erfahrungen, Entwicklungen und neue Erkenntnisse im medizinischen, psychologischen, pädagogischen und technischen Bereich müssen in der Rehabilitation nutzbringend eingesetzt werden.

INDIKATION, ANPASSUNG UND IABILITATION DER HÖRGESCHÄDIGTEN

95 Prozent aller Hörgeräteversorgungen finden in der ambulanten Versorgung statt. Die meisten vorliegenden Studien werden allerdings unter klinischen Bedingungen erstellt. Hörgeschädigte tun sich schon schwer mit einem frühzeitigen Entschluss zur Hörgeräteversorgung. Dieser Schritt fällt in der ambulanten Versorgung für die meisten leichter als in einer Klinikambulanz. Die Regelversorgung findet auch heute noch in einem gegliederten System mit HNO-Ärzten und Hörgeräteakustikern statt. Aber gerade in Zeiten der Paradigmen integrierter Versorgung, Berücksichtigung von Qualitätsrichtlinien und Optimierung der Ablaufprozesse haben wir uns im Jahr 2000 für das Tinnitustherapie- und Hörzentrum (TTHZ) in Neunkirchen/Saar entschieden, in dem die Indikation, Anpassung und Rehabilitation der Hörgeschädigten in einem integrierten Modell eingepasst wurden.Ziel war, einmal die Abläufe (also Indikation, Anpassung und Rehabilitation der Hörgeschädigten) zu optimieren. Möglichkeiten fanden sich in der Vermeidung von Doppeluntersuchungen (z.B. Audiometrien) unter ökonomischen Gesichtspunkten, aber auch unter Belastungsgesichtspunkten der Patienten. Die Absolvierung der Hörtestpalette (Ton- und Sprachaudiometrie) bedeutet für die meisten Patienten eine nicht unerhebliche Belastung. So zeigte sich in diesem optimierten Prozess eine deutlich geringere Belastung der Patienten, die zu einer höheren Akzeptanz der Hörgeräte führte. Ein zweiter Aspekt bezieht sich auf die Sicherung der Ergebnisqualität nach der Hörgeräteanpassung. Hier wird schnell deutlich, dass die in den Heil- und Hilfsmittelrichtlinien geforderten Kriterien nicht mehr zur Beurteilung des Rehabilitationsergebnisses der Hörgeschädigten ausreichen. Audiometrische Testergebnisse sind nicht umfassend genug, um die Hörwelt der Hörgerätenutzer abzubilden. Allenfalls bieten sie eine Momentaufnahme in einer konkreten Situation, die noch nicht einmal repräsentativ für die Hörgewohnheiten der Betroffenen sind. Schnell wird klar, dass nur der Betroffene selbst ein Gesamturteil über seine neue „Hörwelt" mit seinen individuellen Hörgewohnheiten geben kann. So haben sich Fragebögen zur Beurteilung der psychosozialen Befindlichkeit der Hörgerätenutzer in der täglichen Praxis zunehmend etabliert. Hierbei wird allerdings nicht allein die Hörverbesserung zum point of interest, sondern vielmehr die Kommunikationskompetenz des Betroffenen. Weiterhin dienen die Fragebögen nicht nur der Dokumentation vor und nach der Hörgeräteanpassung, sondern auch der Indikationsstellung für weitere audiotherapeutische Maßnahmen wie Hörtraining, Hörtaktik, Absehtraining und psychosoziale Bewältigungsstrategien der Hörschädigung.

DIE PRAKTISCHE UMSETZUNG DER STUDIE UND IHRE ERGEBNISSE

Eine Fragestellung der Studie war, welche Ergebnisse sich nicht zuletzt auch durch den Einsatz audiotherapeutischer Maßnahmen erzielen lassen. Insgesamt nahmen an der Studie 38 Patienten teil, die in einem Zeitraum von zehn Monaten im TTHZ untersucht wurden. Zu Beginn stellte der HNO-Arzt die Indikation nach den Heil- und Hilfsmittelrichtlinien mittels Ton- und Sprachaudiogramm in einer akustisch abgeschlossenen Hörprüfkabine, einer so genannten IAC Kabine (siehe Foto Seite 21), nach DIN ISO Hörkabine bei einem Umgebungsschall von unter 40 dB. Nach der ärztlichen Untersuchung wurden die Patienten dem Hörgeräteakustiker im TTHZ möglichst am gleichen Tag vorgestellt. Im weiteren Verlauf standen die Erhebung der Anamnese, der Hördefizite und die Ermittlung der persönlichen Wünsche und Zielvorstellungen der Hörgeräteversorgung im Mittelpunkt, wobei kosmetische Aspekte, Technik und die Kosten der Hörgeräteversorgung zu den Unterkriterien gehörten. Die ermittelten Audiometriebefunde wurden erklärt beziehungsweise ergänzt (z.B. Unbehaglichkeitsschwelle). Außerdem wurde in der ersten Sitzung die Ohrabformung durchgeführt sowie Kontakt mit der Audiotherapeutin aufgenommen.In einer zweiten Sitzung bekamen die Patienten nach vorheriger Erläuterung durch den Hörgeräteakustiker ein für sie geeignetes Hörgerät angepasst. Sie lernten darüber hinaus den Umgang mit dem Gerät (An- und Ausziehen) und bekamen Pflege- und Bedienungshinweise. Danach folgte die Hörgeräteabnahme. Voraussetzungen hierfür waren der Nachweis (festgestellt durch den Hörgeräteakustiker) eines ausreichenden Hörgegegwinns für den Pat. auf der Grundlage der Heil- und Hilfsmittelrichtlinien und eine problemlose Handhabung des Gerätes. Überdies sollte er seine Bereitschaft erklären, das Hörgerät regelmäßig zu tragen. Im direkten Anschluss nahm der HNO-Arzt die Abnahmeuntersuchung vor. Die Ergebnisse des Hörgeräteakustikers wurden auf Plausibilität überprüft und der Patient nach Tragedauer, subjektivem Hörgewinn und Problemfeldern befragt. Bei dem Vergleich der Befragungsergebnisse zeigten sich zum Teil unterschiedliche Aussagen der Probanden bei identischen Fragen von Hörgeräteakustiker und HNO-Arzt. Dies belegte einmal mehr die Notwendigkeit einer unabhängigen Kontrolle im Anpassprozess, da manche Patienten nur auf diese Weise Problemfelder oder Unzufriedenheit artikulieren können. Durch regelmäßige, gemeinsame Gespräche könnten dann Problemlösungen erarbeitet werden. Nach erfolgreicher Hörgeräteabnahme begann die Audiotherapie, die in Gruppen von drei bis sechs Patienten durchgeführt wurde. Zunächst mussten die Probanden den TTHZ-Fragebogen modifiziert nach dem Göteburger Profil ausfüllen (siehe Kasten Seite 20). Die anschließende, moderierte Gesprächsrunde über die Themengebiete technische Erfolge/Probleme, Kommunikationserfolge/-defizite, psychosoziale Problemlösungen/-defizite, Bewältigungsstrategien der Hörschädigung, Lebensqualitätsveränderungen wie auch die Auswertung der Fragebögen bildeten die Grundlage für die weiteren audiotherapeutischen Maßnahmen. So wurden beispielsweise bei festgestellten Defiziten Einzelsitzungen vorgeschlagen.

POSITIVE ERFAHRUNGEN MIT DER AUDIOTHERAPIE

Zur Beurteilung der Audiotherapie wurden alle Probanden nach ca. zwei bis zehn Wochen erneut eingeladen und befragt. Alle stuften die Audiotherapie als positiv ein. So konnten durch die therapeutischen Maßnahmen Unsicherheiten im Umgang mit dem Hörgerät abgebaut und Kommunikationstechniken und -strategien entwickelt werden. Den Probanden wurde überdies der Zusammenhang von Hörentwöhnung und Hörgewöhnung deutlich, was bei mehr als der Hälfte der Teilnehmer eine längere Tragedauer der Hörgeräte bewirkte. Zudem konnten Probleme beim Telefonieren durch ein entsprechendes Training in der Therapie auf ein Minimum reduziert bzw. gelöst werden. Den wichtigsten Teil der Audiotherapie stellten das psychosoziale Befähigungstraining und die Bewältigung der Hörschädigung dar. Hierzu befragt, gaben alle Teilnehmer - mit Ausnahme eines Probanden - an, eine deutlich bessere Verarbeitungsstrategie der Hörschädigung nach der Audiotherapie zu haben.Diese Ergebnisse dokumentieren, dass in der Versorgung und ambulanten Rehabilitation von Hörgeschädigten neue Wege eingeschlagen werden müssen, um die Akzeptanz von Hörgeräten zu steigern. Wirksame Hilfe erreicht die Betroffenen, wenn sie dort abgeholt werden, wo sie gerade akustisch und kommunikationstechnisch stehen. Neben der korrekten Hörgeräteanpassung vermitteln audiotherapeutische Maßnahmen Wege zur Optimierung der Kommunikationskompetenz. Mit Hilfe der Audiotherapie wird eine wesentliche Lücke in der ambulanten Versorgung von Hörgeschädigten geschlossen, die eine steigende Akzeptanz von Hörhilfen, aber auch Schritte in ein selbstbestimmtes Leben von Hörgeräteträgern bedeuten. Nach unserer Ansicht stellt sie ein unverzichtbarer Bestandteil einer qualitätsbasierten Hörgeräteversorgung dar.